Rüdiger Plantiko

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Die Zeitschrift La Nef veröffentlichte am 29.3.2019 ein Interview mit Kardinal Sarah. Anlaß war sein kürzlich erschienenes Buch Le soir approche et déjà le jour baisse (Es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget). Ich habe es hier (nicht akribisch wortgetreu) übersetzt, da ich es für sehr bemerkenswert halte. Im Catholic Herald ist eine englische Übersetzung des Interviews erschienen.

Ursache der Krise: Ablehnung von Vaterschaft und von allem Gegebenen

Im ersten Teil Ihres Buches sprechen Sie von einem "spirituellen und religiösen Zusammenbruch." Wie manifestiert sich dieser? Betrifft er nur den Westen, oder sind auch andere Regionen der Welt betroffen, beispielsweise Afrika?

Die spirituelle Krise betrifft die ganze Welt. Aber ihre Ursache liegt in Europa. Es ist die westliche Welt, in deren Bewußtsein die Ablehnung Gottes Einzug hielt.

Der spirituelle Zusammenbruch hat also eine sehr westliche Prägung. Ich sehe einen besonderen Zusammenhang mit der Zurückweisung des Ideals der Vaterschaft. Unsere Zeitgenossen sind der Meinung, daß man, um wirklich frei zu sein, von niemandem abhängen darf. Das ist ein tragischer Fehler. Der westliche Mensch glaubt, es laufe seiner Würde zuwider, etwas von jemand anderem bekommen zu haben. Aber der zivilisierte Mensch ist grundsätzlich Erbe: er erbt seine Geschichte, seine Kultur, seine Sprache, seinen Namen, seine Familie. Das ist es, was ihn von einem Wilden unterscheidet. Wer sich weigert anzuerkennen, daß sein Leben in ein Netz von Abhängigkeiten eingeschrieben ist, daß er Erbe ist und ein Erbe hat, verdammt sich in den Dschungel einer völlig sich selbst überlassenen Wettbewerbswirtschaft. Der Mensch, der sich nicht mehr als Erbe sieht, ist zur Hölle des liberalen Globalismus verurteilt, in der die Ansprüche der einzelnen aufeinanderprallen, ohne herrschende Regel außer der einen: um jeden Preis Profit zu machen.

In diesem Buch möchte ich aber den Menschen des Westens erklären, daß ihre Weigerung, ihr Erbe anzuerkennen und ihre Weigerung, das Ideal der Vaterschaft anzuerkennen, darin gründet, daß sie sich Gott verweigern. Die Geschlechtsnatur als Mann oder Frau ist gottgewollt. Das ist für den modernen Menschen nicht akzeptabel. Die Gender-Ideologie ist die luziferische Weigerung, die von Gott gegebene Geschlechtsnatur anzuerkennen. In ihrer Rebellion gegen Gott gehen manche so weit, daß sie sich selbst verstümmeln, um ihr Geschlecht zu verändern. In Wirklichkeit ändern sie damit aber nichts Wesentliches an ihrer Natur als Mann oder Frau. Der Westen weigert sich, Dinge anzunehmen, für ihn gilt nur, was er selbst geschaffen hat. Transhumanismus ist das letzte Ziel dieser Bewegung: weil auch sie ein Geschenk Gottes ist, wird selbst die menschliche Natur für den Menschen schließlich unerträglich.

Im Kern ist diese Revolte spiritueller Natur. Es ist die Auflehnung Satans gegen das Geschenk der Gnade. Der westliche Mensch lehnt es ab, sich durch Gottes Gnade erlösen zu lassen. Er lehnt es ab erlöst zu werden, sondern will sich selbst erlösen. Die sogenannten "Grundwerte" der Vereinten Nationen entspringen einer Ablehnung Gottes, vergleichbar mit dem "reichen Jüngling" im Evangelium (Lk 18,18-27). Gott hat den Westen angesehen und liebte ihn, weil er großartige Dinge getan hat. Aber der Westen nahm die Einladung, auf diesem Wege weiterzugehen, nicht an. Er wandte sich den Gütern zu, die er ganz aus sich selbst zu haben meinte.

Mission als Gottesdienst

Afrika und Asien sind noch nicht vollständig von Gender-Ideologie, Transhumanismus und dem Haß auf das Ideal der Vaterschaft infiziert. Aber der neokolonialistische Geist des Westen, sein Wille nach Vorherrschaft, setzt alle Länder unter Druck, diese todbringenden Ideologien anzunehmen. Sie schreiben, daß "Christus seinen Gläubigen nie versprochen hat, daß sie in der Mehrheit sein würden" (S. 34) und fahren fort: "Trotz der größten Anstrengungen der Missionare hat die Kirche nie die ganze Welt beherrscht. Die Mission der Kirche ist eine Mission der Liebe, und Liebe herrscht nicht." (S. 35) Zuvor hatten Sie geschrieben, daß "es nur ein kleiner Rest ist, der den Glauben bewahrt hat." Verzeihen Sie mir die direkte Frage: was ist denn das Problem, wenn wir sehen, daß dieser "kleine Rest" existiert und es auch schafft, in einer glaubensfeindlichen Umgebung zu überleben?

Christen haben die Pflicht zu missionieren. Sie sollen den Schatz des Glaubens nicht für sich selbst behalten. Mission und Evangelisierung bleiben eine dringende spirituelle Aufgabe. Jeder Christ sollte wie der Heilige Paulus sagen: "Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!" (1 Kor. 9,16) Und "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen." (1. Tim 2,4). Wie können wir untätig bleiben, wenn so viele Seelen noch nichts von der einzigen Wahrheit wissen, die uns wirklich frei macht: von Jesus Christus? Der heute vorherrschende Relativismus betrachtet religiösen Pluralismus als etwas in sich Gutes. Nein! Die Fülle der offenbarten Wahrheit, die die katholische Kirche empfangen hat, muß weitergegeben werden, verkündet werden, gepredigt werden.

Ziel der Evangelisierung ist nicht Weltherrschaft, sondern Gottesdienst. Vergessen wir nicht: der Sieg Christi über die Welt ist... das Kreuz! Es ist nicht unsere Absicht, die Weltherrschaft zu übernehmen. Evangelisierung geschieht durch das Kreuz.

Die Märtyrer sind die ersten Missionare. Aus menschlicher Sicht ist ihr Leben ein Versagen, ein Fehler. Ziel der Evangelisierung ist nicht Aufmerksamkeit zu bekommen, nicht Aufsehen zu erregen wie die soziale Medien. Wir wollen keine Popularität in den Medien. Wir wollen, daß jede einzelne Seele durch Christus gerettet wird. Evangelisierung ist keine Frage des (äußerlich sichtbaren) Erfolgs, sondern eine innerliche und übernatürliche Angelegenheit.

Aufgabe der Laien: die Gesellschaft christlich zu gestalten

Ich möchte auf auf einen Ihrer Punkte aus der vorigen Frage zurückkommen. Wollen Sie sagen, daß Europa, als es sich gesellschaftlich durchgängig christlich ausgerichtet hatte, nur ein Zwischenspiel in der Geschichte darstellt? Daß eine vom Christentum "beherrschte" Gesellschaft, die das Christentum auch mit Zwangsmitteln durchsetzte, nicht als Vorbild angenommen werden sollte?

Eine vom christlichen Glauben, vom Evangelium und vom Naturrecht durchdrungene Gesellschaft ist etwas Erstrebenswertes! Es gehört zu den Aufgaben der gläubigen Laien, sie zu organisieren. Das ist ihre eigentliche Berufung: die Arbeit am gemeinsamen Wohl, wenn sie eine für den offenbarten Glauben offene Gesellschaft in Übereinstimmung mit der Natur des Menschen organisieren. Aber die Kirche hat eine tiefere Aufgabe als eine bestimmte vorbildhafte Gesellschaft aufzubauen. Die Kiche hat die Aufgabe erhalten, das Heil zu verkünden. Das Heil ist eine übernatürliche Wirklichkeit. Eine gerechte Gesellschaft disponiert viele Seelen dazu, die Gaben Gottes zu empfangen, aber sie kann selbst nicht die Erlösung stiften. Und kann denn andererseits eine gerechte Gesellschaft in Einklang mit dem Naturrecht bestehen, wenn nicht die Gabe der Gnade in den Seelen wirkt?

Es ist wichtig, den Kern unseres Glaubens zu verkünden: nur Jesus kann uns von der Sünde erlösen. Aber die Evangelisierung ist erst dann vollendet, wenn sie auch die sozialen Strukturen ergreift. Eine vom Evangelium inspirierte Gesellschaft beschützt die Schwächsten vor den Folgen der Sünde. Dagegen entartet eine von Gott abgeschnittene Gesellschaft schnell zu einer Diktatur und wird selbst strukturell Sünde, ermutigt die Menschen zum Bösen. Daher können wir sagen, daß es keine gerechte Gesellschaft geben kann, in der Gott aus dem öffentlichen Raum herausgehalten wird. Ein Staat, der offiziell atheistisch, gottlos ist, ist ein ungerechter Staat. Ein Staat, der Gott nur in die Privatsphäre seiner Bürger verbannt, schneidet sich selbst ab von der wahren Quelle von Recht und Gerechtigkeit. Ein Staat, der seine Rechte nur auf dem guten Willen der Bürger gründet, statt auf einer objektiven, vom Schöpfer gegebenen Ordnung, riskiert, dem Totalitarismus zu verfallen.

Freiheit, die nicht am Guten und Wahren ausgerichtet ist, ist keine

Im Gang der europäischen Geschichte haben wir uns von einer Gesellschaft, die die Gruppe über die Person stellt (wie in der ganzheitlichen Ordnung des Mittelalters) - ein Typus von Gesellschaften, die immer noch in Afrika existieren und heute für den Islam charakteristisch ist - hin zu einer Gesellschaft entwickelt, in der die Person sich von der Gruppe emanzipiert hat (Individualismus). Grob könnte man sagen, wir haben uns wegbewegt von einer Gesellschaft, die nach der Wahrheit sucht, hin zu einer Gesellschaft, die nach der Freiheit sucht. Die Kirche selbst hat ihre Lehre angesichts dieser Veränderung entwickelt, indem sie im II. Vatikanischen Konzil das Recht auf Religionsfreiheit verkündete. Wie steht die Kirche zu dieser Veränderung? Gilt es ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen "Freiheit" und "Wahrheit" zu finden, während wir in der Vergangenheit nur von einem Extrem ins andere gegangen sind?

Es ist nicht korrekt, von einem "Gleichgewicht zwischen den Polen Wahrheit und Freiheit" zu sprechen, als wären diese Begriffe sich gegenseitig fremd oder stünden sogar im Widerspruch miteinander. Freiheit strebt im wesentlichen nach dem Guten und Wahren: was wahr und gut ist, gilt es zu erkennen und in Freiheit anzustreben. Eine Freiheit, die nicht an der Wahrheit ausgerichtet ist, ist ein sinnloser Begriff. [RP: dies wurde schon von Papst Leo XIII. in Libertas praestantissimum (1888) klar dargelegt. Es lohnt sich für Katholiken, die päpstlichen Enzykliken und Konzilsbeschlüsse der Zeit vor 1965 zu studieren. Sie wurden und werden ja nie ungültig.] Der Irrtum hat keine Rechte. Das II. Vaticanum hat nur an die Tatsache erinnert, daß die Wahrheit sich nur durch ihre eigene Kraft durchsetzen kann, nicht durch Zwang. Zugleich erinnerte es aber daran, daß der Respekt vor der Person und ihrer Freiheit uns nicht gleichgültig machen sollte für das Wahre und das Gute.

Offenbarung ist der Einbruch der göttlichen Wahrheit in unser Leben. Sie zwingt uns nicht. Indem er sich selbst hingab und offenbarte, anerkennt Gott die Freiheit, die er selbst geschaffen hat. Die Ansicht, Wahrheit und Freiheit stünden in einem Widerspruch, basiert auf einem falschen Begriff von der Menschenwürde.

Der moderne Mensch vergöttert seine Freiheit, setzt sie absolut, so daß er sie schon durch das Annehmen der Wahrheit bedroht sieht. Aber die Wahrheit anzuerkennen ist der schönste Akt, den der Mensch aus seiner Freiheit tun kann. Ihre Frage zeigt, daß die westliche Krise des Bewußtseins im Grunde eine Krise des Glaubens ist. Der westliche Mensch fürchtet, seine Freiheit zu verlieren, wenn er die Gabe des Glaubens annimmt. Da zieht er es vor, sich in einem Freiheitsbegriff einzukapseln, der völlig frei von allem Inhalt ist. Aber der Akt des Glaubens ist ein Zusammenspiel von Wahrheit und Freiheit. Daher habe ich mich im ersten Kapitel meines Buches auf die Glaubenskrise konzentriert. Unsere Freiheit kommt zur Vollendung, wenn sie "Ja" zur offenbarten Wahrheit sagt. Freiheit, die Gott verneint, verneint sich selbst. Sie erstickt.

Der Platz eines Priesters ist am Kreuz

Sie setzen sich ausführlich mit der Krise des Klerus auseinander und argumentieren für den Zölibat der Priester. Was glauben Sie denn, war die Hauptursache der sexuellen Mißbrauchsskandale, und was halten Sie von der Gipfelkonferenz, die gerade in Rom zu dieser Angelegenheit stattfand?

Die Krise des Priestertums ist einer der Hauptfaktoren der Kirchenkrise. Wir haben das wesenhaft Priesterliche verloren. Wir machen die Priester glauben, es ginge darum, daß sie tüchtige Männer sein müssen. Aber ein Priester ist im wesentlichen die Fortsetzung von Christi Gegenwart unter uns. Er sollte daher nicht durch das definiert werden, was er tut, sondern was er ist: ipse Christus, Christus selbst. Die Aufdeckung von so vielen Fällen sexuellen Mißbrauchs von Minderjährigen zeugt von einer tiefen spirituellen Krise, von einem ernsten und tragischen Bruch zwischen dem Priester und Christus.

Natürlich spielen auch soziale Faktoren eine Rolle: die Krise der 1960er und die Sexualisierung der Gesellschaft, die in die Kirche hineinwirkte. Aber wir müssen den Mut haben, genauer hinzuschauen: die Wurzeln dieser Krise sind spiritueller Natur. Ein Priester, der nicht mehr betet, der aus den Sakramenten ein Theater macht, besonders aus der Heiligen Eucharistie, ein Priester, der kaum noch beichtet und nicht konkret christusgleich lebt, ist von der Quelle seines eigenen Seins abgeschnitten. Das Ergebnis ist Tod. Ich habe dieses Buch den Priestern der ganzen Welt gewidmet, denn ich weiß, daß sie leiden. Viele fühlen sich im Stich gelassen.

Wir Bischöfe tragen eine hohe Verantwortung für die Krise des Priestertums. Waren wir ihnen Väter? Haben wir ihnen zugehört, sie verstanden und angeleitet? Waren wir ihnen Vorbild? Viele Diözesen sind in reine Verwaltungsapparate verwandelt worden. Es gibt so viele Meetings. Der Bischof sollte das Vorbild des Priesters sein. Aber wir waren selbst weit entfernt davon, immer zum Gebet in der Stille bereit zu sein, oder unser Officium in den Kathedralen zu beten. Ich fürchte, wir haben uns in profanen, zweitrangigen Aktivitäten verloren.

Der Platz eines Priesters ist am Kreuz. Wenn er die Heilige Messe zelebriert, ist er an der Quelle des Lebens, nämlich beim Kreuz. Der Zölibat ist ein konkretes Hilfsmittel, das es uns ermöglicht, in unserem Leben das Mysterium des Kreuzes zu leben. Der Zölibat schreibt das Kreuz in unser Fleisch ein. Das ist der Grund, warum Zölibat für die moderne Welt inakzeptabel ist. Der Zölibat ist ein Ärgernis für den modernen Menschen - weil ihm das Kreuz ein Ärgernis ist.

In diesem Buch will ich Priester ermutigen. Ich will ihnen sagen: lebt euer Priestertum! Seid stolz, mit Christus gekreuzigt zu werden! Fürchtet nicht den Haß der Welt. Ich will allen Priestern der Welt meine väterliche und brüderliche Zuwendung zeigen.

Die Sünde beim Namen nennen

In einem Buch, das einige Aufregung verursacht hat ("Sodoma" von Frédéric Martel), belegt der Autor, daß es im Vatikan eine Reihe homosexueller Prälaten gibt. Er bestätigt die Aussagen von Msgr. Viganò, daß es im Herzen der Kurie eine mächtige Schwulenlobby gibt. Was halten Sie davon? Gibt es ein Homosexuellenproblem im Herzen der Kirche, und wenn ja: warum wird es tabuisiert?

Heute durchlebt die Kirche mit Christus die Schmähungen der Passion. Die Sünden ihrer Mitglieder sind wie Schläge in ihr Gesicht. Manche haben versucht, diese Sünden zu instrumentalisieren, um Druck auf die Bischöfe auszuüben. Andere wollen, daß die Kirche die Beurteilung und die Sichtweise der Welt übernehme. Einige Bischöfe haben dem Druck nachgegeben. Wir sehen, wie sie die Abschaffung des Zölibats fordern und mit der kirchlichen Lehre unvereinbare Aussagen über homosexuelle Akte machen. Sollen wir überrascht sein? Selbst die Apostel wandten sich ab im Garten Gethsemane. Sie ließen Christus in seiner schwierigsten Stunde im Stich.

Wir müssen realistisch und konkret sein. Ja, wir sind Sünder. Ja, es gibt ungläubige Priester, Bischöfe und sogar Kardinäle, die ihr Keuschheitsgelübde brechen. Ebenso schlimm ist, daß viele nicht mehr zur Wahrheit der kirchlichen Lehre stehen. Sie stiften Verwirrung unter den gläubigen Christen, indem sie eine mißverständliche und zweideutige Sprache verwenden. Sie verfälschen das Wort Gottes, indem sie bereit sind, es zu verdrehen, wenn sie nur die Anerkennung der Welt finden. Es sind die Judas Iskariots unserer Zeit.

Die Sünde sollte uns nicht überraschen. Andererseits müssen wir den Mut haben, die Sünde Sünde zu nennen. Wir sollten keine Angst haben, die Waffen des spirituellen Kampfes einzusetzen: Gebet, Buße und Fasten. Wir müssen einen klaren Blick haben, um den Unglauben zu bekämpfen. Wir müssen konkrete Mittel finden, um den Unglauben zu verhindern. Ich glaube, daß Treue zur Kirche ohne ein gemeinsames Gebetsleben, ohne ein Minimum an gemeinsamem brüderlichen Leben der Priester, nur eine Illusion ist. Wir sollten uns ein Vorbild am Leben der Apostel nehmen, wie es die Apostelgeschichte berichtet.

Was die Homosexualität angeht, sollten wir nicht auf die Manipulatoren hereinfallen. Es gibt kein "Homosexuellenproblem" in der Kirche. Es gibt ein Problem der Sünde und des Unglaubens. Laßt uns nicht die Terminologie der LGBT-Ideologie übernehmen. Homosexualität definiert nicht die Identität von Personen, sondern bestimmte abweichende, sündhafte und perverse Handlungen. Es gibt Heilmittel hierfür, ebenso wie für andere Sünden. Wir müssen zu Christus umkehren und ihm erlauben, uns zu verwandeln. Sind die Verfehlungen öffentlich geworden, müssen die nach dem Kirchenrecht vorgesehenen Strafen angewendet werden. Die Strafe ist barmherzig, ein Akt der Caritas und der brüderlichen Liebe. Strafe kompensiert den Schaden, der dem allgemeinen Wohl entstanden ist und ermöglicht dem Schuldigen Erlösung. Strafen gehört zur väterlichen Rolle der Bischöfe. Auch müssen wir den Mut haben, die klaren Regeln für die Aufnahme von Priesterseminaristen anzuwenden. Männer, in deren Seelen Homosexualität tief und dauerhaft verankert ist, oder die eine Doppelmoral leben oder über ihre Neigungen lügen, können nicht als Kandidaten für ein Priesterseminar angenommen werden.

Wir benötigen eine Reform in unseren Herzen

Ein Kapitel ist der "Krise der Kirche" gewidmet. Wann genau sehen Sie den Anfang dieser Krise, und worin besteht sie? Welche Beziehung sehen Sie zwischen der "Krise des Glaubens" und der "Krise der Moraltheologie"? Geht die eine der anderen voraus?

Zuvörderst ist die Krise der Kirche eine Krise des Glaubens. Manche wollen, daß die Kirche eine rein menschliche, horizontale Gesellschaft sei. Sie wollen, daß die Kirche die Sprache der Medien spricht. Sie wollen die Kirche populär machen. Sie drängen sie, nicht von Gott zu sprechen, sondern sich mit Leib und Seele den sozialen Problemen zu verschreiben: Migration, Ökologie, Dialog, die Kultur der Begegnung, den Kampf gegen die Armut, den Kampf für Gerechtigkeit und Frieden. Das sind ohne Zweifel wichtige Fragen, vor denen die Kirche die Augen nicht verschließen kann. Aber eine Kirche, die sich nur diesen Arbeitsfeldern widmet, ist für niemanden von Interesse. Das Wesentliche der Kirche ist allein, daß sie es uns ermöglicht, Jesus zu begegnen. Ihre einzige Legitimation liegt darin, daß sie uns die göttliche Offenbarung weitergibt. Wenn die Kirche sich zu sehr in den rein menschlichen Strukturen bewegt, wird das Licht Gottes verdunkelt, das aus ihr und durch sie strahlt. Wir sind versucht zu denken, daß unsere Taten und Ideen die Kirche retten können. Es wäre besser, damit anzufangen, sie sich selbst heilen zu lassen.

Ich denke, wir sind an einem Wendepunkt der Kirchengeschichte. Die Kirche braucht eine tiefgreifende, radikale Reform - die bei einer Reform des Lebens ihrer Priester beginnen muß. Priester müssen ganz erfüllt von dem Streben nach Heiligkeit sein, nach Treue zu Seinen Lehren. Ihr ganzes Sein und all ihr Tun muß im Dienste der Heiligkeit stehen. Die Kirche selbst ist heilig. Unsere Sünden und unsere irdischen Sorgen und Belange hindern sie daran, ihre Heiligkeit auszustrahlen. Es ist Zeit, all diese Lasten beiseitezulegen, so daß die Kirche endlich so erscheinen kann, wie Gott sie machte. Manche glauben, daß strukturelle Reformen das Wesentliche in der Kirchengeschichte seien. Ich bin sicher, daß es die Heiligen sind, die ihre Geschichte formen und verändern. Die Struktur folgt nach, indem sie lediglich das befestigen, was die Heiligen brachten.

Wir brauchen Heilige, die es wagen, alles mit den Augen des Glaubens zu sehen, die es wagen, sich vom Licht Gottes erleuchten zu lassen. Die Krise der Moraltheologie ist eine Folge einer freiwilligen Blindheit. Wir haben uns geweigert, das Leben im Licht des Glaubens zu sehen.

Am Schluß meines Buches spreche ich von dem Gift, unter dem wir alle leiden: dem virulenten Atheismus. Er durchdringt alles, selbst den innerkirchlichen Diskurs. Wir lassen es zu, daß radikal heidnische und weltliche Denk- und Lebensweisen neben dem Glauben koexistiseren. Und wir fühlen uns sehr wohl mit dieser unnatürlichen Lebensgemeinschaft! Das zeigt, daß unser Glaube schwach und inkonsistent geworden ist. Die erste Reform, die wir benötigen, ist eine Reform in unseren Herzen. Wir dürfen nicht länger Kompromisse mit der Lüge schließen. Der Glaube ist der Schatz, den wir zu verteidigen haben, und er gibt uns die Kraft, mit der wir ihn verteidigen können.

Ein Warnruf, der ein Ruf der Liebe ist

Der zweite und dritte Teil Ihres Buches handelt von der Krise der westlichen Gesellschaften. Das Feld ist so weit, und Sie streifen so viele wichtige Punkte - von der Ausweitung der "Kultur des Todes" über die Probleme des Konsumismus, verknüpft mit dem globalen Liberalismus, die Frage der Identität, der Transmission, des Islamismus usw. - daß es unmöglich ist, sie alle anzusprechen. Welches unter all diesen Problemen erscheint Ihnen als das wichtigste, und was sind die Hauptursachen für den Niedergang des Westens?

Zuerst möchte ich erklären, warum ich, ein Sohn Afrikas, mir erlaube, den Westen anzusprechen. Die Kirche ist die Hüterin der Zivilisation. Ich bin davon überzeugt, daß die westliche Zivilisation sich zur Zeit in einer lebensgefährlichen Krise befindet. Sie hat den Gipfelpunkt eines selbstzerstörerischen Hasses erreicht. Wie beim Fall Roms, sind die Eliten nur damit beschäftigt, ihren Lebenskomfort zu steigern, während die Völker sich mit immer vulgärerer Unterhaltung betäuben. Als Bischof ist es meine Pflicht, den Westen zu warnen. Die Barbaren sind schon in der Stadt. Barbare ist, wer die menschliche Natur haßt, wer den Sinn für alles Heilige verhöhnt, wer das Leben selbst verachtet. Der Hunger nach materiellem Wohlstand hat den Westen erblinden lassen. Die Verlockungen des Geldes, die der Liberalismus in den Herzen verbreitet hat, haben die Menschen eingeschläfert. Und während sie dahindämmern, setzt sich die stumme Tragödie der Abtreibung und Euthanasie fort. Und Pornographie und Gender-Ideologie verderben Kinder und Erwachsene. Wir sind die Barbarei gewohnt, sie überrascht uns nicht mehr! Ich wollte einen Warnruf senden, der auch ein Ruf der Liebe ist. Ich tat es auch aus tiefer kindlicher Dankbarkeit für die Missionare des Westens, die auf afrikanischem Boden starben. Ich will ihre Nachfolge aufnehmen und ihr Erbe bewahren.

Wie könnte ich nicht auf die Gefahr des Islamismus hinweisen? Moslems verachten den atheistischen Westen. Sie nehmen Zuflucht im Islamismus, weil sie eine Konsumentengesellschaft ablehnen, die ihnen als (Ersatz)religion angeboten wird. Wird der Westen ihnen den Glauben in klarer Weise vermitteln können? Dafür wäre es nötig, daß er seine christlichen Wurzeln, seine Identität wieder entdeckt. Den Ländern der Dritten Welt erscheint der Westen als ein Paradies, weil er vom Wirtschaftsliberalismus beherrscht wird. Das treibt die Migrationsströme an - mit tragischen Folgen für die Identität der Völker. Ein Westen, der seinen Glauben, seine Geschichte, seine Wurzeln, seine Identität verleugnet, ist dazu bestimmt verachtet zu werden, zu sterben, aus der Geschichte zu verschwinden.

Aber ich stelle auch fest, daß alles bereit für eine Erneuerung ist. Ich sehe Familien, Klöster und Gemeinden, die mir wie Oasen inmitten einer Wüste erscheinen. Es sind diese Oasen des Glaubens, der Liturgie, der Schönheit und der Stille, aus denen der Westen wiedergeboren werden kann.

Gott mit uns

Sie beenden Ihr Buch mit einem Kapitel "Die Hoffnung erneuern: die Praxis der christlichen Tugenden." Was meinen Sie damit? Inwiefern kann das Praktizieren dieser Tugenden ein Ausweg aus der vielfachen Krise sein, über die wir in diesem Interview sprachen?

Wir sollten nicht meinen, daß es ein konkretes Programm gibt, um diese vielfältige Krise zu überwinden. Wir sollten einfach unseren Glauben leben - ganz und radikal. Die christlichen Tugenden sind nichts anderes als das Ausstrahlen des Glaubens in alle menschlichen Fähigkeiten hinein. Sie zeigen den Weg zu einem glücklichen Leben in Harmonie mit Gott. Wir müssen Orte schaffen, in denen sie blühen können. Ich appelliere an die Christen, Oasen der Freiheit zu schaffen inmitten der Wüste des vorherrschenden Nützlichkeitsdenkens. Wir müssen Orte schaffen, in denen man die Luft atmen kann – in denen schlicht ein christliches Leben wieder möglich wird. Unsere Gemeinden müssen Gott in die Mitte stellen. In den Lawinen der Lügen müssen wir Orte finden, in denen die Wahrheit nicht nur dargelegt, sondern auch erfahren wird. Mit anderen Worten: wir müssen das Evangelium leben. Es nicht für utopisch halten, sondern es konkret erfahren. Der Glaube ist wie ein Feuer - man muß selbst brennen, um ihn weitergeben zu können. Hütet dieses heilige Feuer! Möge es euch wärmen inmitten des winterlich kalten Westens. Wenn ein Feuer in der Nacht aufleuchtet, versammeln sich die Menschen darum. Das ist unsere Hoffnung. "Wenn Gott mit uns ist - wer kann dann gegen uns sein?" (Röm 8,31)
Veröffentlicht: Samstag, den 13. April 2019