Rüdiger Plantiko

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Im Grundgesetz sind Glaubensbekenntnis- und Glaubensausübungsfreiheit zu einem einzigen Grundrecht "Religionsfreiheit" verschmolzen – mit sehr problematischen Konsequenzen.

Die als "Religionsfreiheit" neben der Bekenntnisfreiheit (daß einem durch einen konkreten Glauben keine Nachteile entstehen dürfen) gleichzeitig abstrakt zugesicherte Ausübungsfreiheit für Religionen (GG 4.2) wäre nicht nötig gewesen, ich würde diese Ziffer ersatzlos streichen.

Meinem subjektiven Rechtsempfinden würde es entsprechen, nur das Bekenntnis zu schützen, alles andere aber dem allgemeinen Gesetzesrahmen überlassen. Zuzulassen, ob der Taubenzuchtverein im Ort ein Vereinshaus bauen will oder die Hindus einen Tempel, ist auch eine Angelegenheit der Leute, die dort wohnen, hier bestimmt die Gemeindeselbstverwaltung nach Art. 28 GG, v.a. Ziffer (2). Wenn sie etwas dagegen haben, können die dort lebenden Menschen verhindern, daß der Taubenzuchtverein sein Vereinsgebäude in ihrem Ort errichtet. Der den öffentlichen Raum der Gemeinde betreffende Vereinsbau untersteht wie alles, was in das Öffentliche hineinragt, der Zustimmung der Gemeinde. Kultgebäude von Religionen brauchen hier keine Sonderbehandlung.

Nun habe ich einmal in der Schweizer Bundesverfassung geschaut - wir erinnern uns: die Schweizer haben ein Minarettverbot, was viele in D als Verstoß gegen GG 4.2 werten würden.

Die Schweizer Bundesverfassung (BV) sichert die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Artikel 15:

  1. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet.
  2. Jede Person hat das Recht, ihre Religion und ihre weltanschauliche Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen.
  3. Jede Person hat das Recht, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören und religiösem Unterricht zu folgen.
  4. Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.

Hier sind also, um Mißverständnisse zu vermeiden, die Freiheiten der Religionsausübung ganz klar spezifiziert: dazu gehört, seine Religion "allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu bekennen" und "das Recht, religiösem Unterricht zu folgen." Damit hat es sich. Der Rest ist durch allgemeine, nicht explizit auf Religionen bezogene Gesetze zu regeln. Ein interessanter Unterschied zum Grundgesetz liegt auch in der Betonung der negativen Rechte, der Schutz- und Abwehrrechte: eher ist es aus Schweizer Sicht Aufgabe des Staates, den einzelnen vor einem Zugriff der Religionsgemeinschaft zu schützen, der seine Freiheitsrechte beschneidet – statt der Religionsgemeinschaft erst einmal gesonderte Zugriffsrechte zu gewähren, wie es das deutsche Grundgesetz mit der Ausübungsfreiheit macht.

Das ist natürlich viel vorsichtiger als eine Blanko-Ermächtigung für "Ausübung der Religion" wie bei uns, deren Grenzen im Detail immer erst durch Rechtsstreite ausgehandelt werden müssen.

Daß die Religionsausübungsfreiheit so hoch aufgehängt wird, könnte sich nun als Trojanisches Pferd erweisen. An eine islamische Unterwanderung hat man, als das Grundgesetz verfasst wurde, natürlich nicht gedacht. Man sagte "Religion" und dachte "Christentum". Und da das Christentum eben unsere Religion ist, die Religion des europäischen Kulturkreises, hat sich lange Zeit niemand daran gestört. Da sind wir bei den Etabliertenvorrechten, die es - zwar nicht unbedingt auf juristischer, auf jeden Fall aber auf der sozialen Ebene - in allen Gesellschaften gibt und geben muß - bei Strafe ihres Untergangs.

Veröffentlicht: Montag, den 22. August 2016