Rüdiger Plantiko

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Der Physiker Roger Penrose bekennt sich in seinem Buch Computerdenken als Platoniker (wenn auch in der von ihm "schwach" genannten Form des Platonismus): Für ihn haben die Ideen eine ebenso reale Existenz wie die Sinneswelt, die uns umgibt. Die Realität der Ideen drängt sich ihm beim mathematischen Denken auf. Auch bei Gesprächen mit Kollegen, wenn sie beispielsweise einen Beweis im Geiste durchgehen, erleben sie sich gemeinsam vor einem wirklichen Objekt stehend, das sie zu beschreiben oder zu begreifen versuchen. "Ah, ja, ich sehe", sagt man, wenn man den Gegenstand wahrgenommen hat, der einem gezeigt wurde.

Nirgends kann man das so schön erleben wie in der Geometrie. Die geometrischen Objekte, über die wir nachdenken, sind alle nur geistige Vorbilder für die sinnlichen Objekte, die wir schliesslich mit Zirkel und Lineal ins Heft zeichnen. Der Strich hat eine Dicke, müsste aber unendlich dünn sein, der Punkt unendlich klein ("Ein Punkt ist, was keine Ausdehnung hat", beginnt Euklid), die Kreise und Strecken sind nicht regelmässig gezeichnet, usw. Mit dem Kopf ragen wir dennoch in eine zweite Welt hinein, die nicht weniger spannend ist als die, von der uns die Sinne Kunde geben.

Die Einsicht in diese Welt ist uns nicht unmittelbar gegeben. Wir müssen, obwohl sie sich wirklicher anfühlt als die uns umgebende Welt, mit Mühe darin herumtasten, während wir die uns umgebenden Dinge ohne weiteres sehen. Einen Sinn wie unser Auge, mit dem wir "ohne weiteres" Zusammenhänge wie den Satz des Pythagoras sehen können, besitzen wir nicht. Die Bewegung in dieser anderen Welt ist für uns daher dem Tasten ähnlicher als dem Sehen. Aber wie beglückend ist es doch immer, wenn wir etwas ertastet haben! In diesem Sinne bleibt es wahr (und ist über den Vorwurf der "Leibfeindlichkeit" erhaben), dass der Leib das Gefängnis des Geistes ist.

1. Kor. 13,12 drängt sich auf: Wir sehen itzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.

Veröffentlicht: Freitag, den 18. November 2011