Rüdiger Plantiko

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These.- Die herrschende Klasse lebt von der Arbeit, dem Leid, Blut, Tod und den Konflikten der Menschen und zieht daraus eigenen Profit.
Dies ist das linke Fundamentalnarrativ (lFN). Es existiert in verschiedenen Variationen, hauptsächlich in den politisch linken Denkrichtungen, ist aber auch in den libertären (⟶Staatskritik und Kritik am staatlich monopolisierten ⟶Schuldgeldsystem) und rechten Gesellschaftstheorien (etwa in der ⟶Judaismuskritik des ⟶nationalen Sozialismus) präsent und läßt sich bis zu den Vordenkern der ⟶Französischen Revolution zurückverfolgen. Im ⟶Marxismus, dem Urvater der linken Ideologien, nimmt es eine zentrale Stellung ein – sowohl in der Theorie der ⟶Klassenkämpfe ("die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen") als auch in der ⟶marxistischen Arbeitswerttheorie, aufgrund derer sich die Kapitalistenklasse immer einen Teil der in die Herstellung eines Produktes gesteckten "lebendigen Arbeit" von Menschen aneigne, also wie ein Parasit Teile der Lebenskraft und -zeit der Arbeiter absauge.

Zentraler Punkt des lFN ist, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die als Profiteur davon lebt, den Rest der Menschen gegen deren eigenes Interesse in einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit zu halten. Diese Abhängigkeit werde entweder mit Hilfe des ⟶staatlichen Gewaltmonopols aufrechterhalten, also durch nackte Gewalt, oder aufgrund eines subtileren Mechanismus, der vor den Menschen verborgen gehalten werde (etwa eines komplexen, für Laien als schwer durchschaubar dargestellten Ausbeutungs- oder Geldsystems), oder indem man ihnen durch ⟶Manipulation diese parasitäre Gesellschaftsform als einzig richtig und in ihrem eigenen Interesse liegend darstelle.

Die These hat eine große Strahlkraft, vor allem für nicht (mehr) religiöse Menschen. Sie erlaubt es, Gut und Böse in bequemer Weise nach einer einfachen Systematik auf verschiedene Menschengruppen aufzuteilen und gibt dem Einzelnen daher ersatzweise das Gefühl von Sinn, dessen er durch Zurückweisung des Theismus verlustig gegangen ist: er kann sich mit vollem Eifer wieder für eine gerechte Sache einsetzen. Indem er die Interessen der ausgebeuteten Menschen gegen deren Ausbeuter in Schutz nimmt, kann sich der Linke daher in einer ähnlichen Sendung fühlen wie vor 1000 Jahren ein Kreuzritter bei dem Versuch, die muslimische Invasion Palästinas zurückzudrängen. In Anklang an die Holy Warriors des früheren Christentums spricht man im angelsächsischen Raum vom Typus des Social Justice Warrior. Das lFN ist daher die Grundsäule der ⟶säkularen Religion. Im Kern ist es der Versuch, das Rätsel Wie kommt das Böse in die Welt? durch eine rein innerweltliche Theorie zu beantworten.

Zurückweisung 1 (soziologisch).- Das lFN folgt nicht aus der Geschichte, sondern wird nur in diese hineingelegt. Es gibt daher keinen Grund, es anzunehmen. Nach Max Weber gilt es, Macht von ⟶Herrschaft als legitimer Machtausübung zu unterscheiden. Die von der herrschenden Klasse ausgeübte Macht muß nicht illegitim sein, wie es das lFN postuliert, sondern kann ebensogut eine legitime sein und gewesen sein, also Herrschaft. Die Untertanen stützten demnach die herrschende Klasse aus eigenem Interesse, weil sie durch die Herrschaft Vorteile im gesellschaftlichen Miteinander hatten, die Herrschaft erfüllte gesamtgesellschaftliche Aufgaben: Verwaltung und Reglementierung gemeinschaftlich genutzter Güter (⟶Infrastruktur), die Rechtssicherheit im Umgang miteinander sowie den Schutz vor äußerer und innerer Gewalt. Auch diese Ansicht von der grundsätzlich ⟶gewollten Herrschaft läßt sich mit den Beobachtungen in Einklang bringen. Obendrein spricht für diese Ansicht, dass Regenten nicht völlig frei in ihrem Handeln waren, sondern in bestimmten, sensiblen Punkten sehr genau das leisten mußten, was ihre Aufgabe war. Fehlten sie in diesen Aufgaben, wurden sie entmachtet.

Zurückweisung 2 (empirisch).- Unbestritten existierten in der Geschichte zu jeder Zeit Gewalt, Terror, Mord, Krieg, Ausbeutung und Profitgier, übergreifend in jeder bisher realisierten Gesellschaftsform. Die Neigung hierzu muß daher als eine Konstante des menschlichen Verhaltens angesehen werden, sie hängt nicht von einem bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftssystem ab, sondern liegt offensichtlich in der Natur des Menschen. Statt diese Natur des Menschen ändern zu wollen, was einem Kampf gegen Windmühlen gleichkommt, muß die Aufgabe daher in einer Minimierung des Schadenspotentials liegen, die jeder einzelne durch die in seiner Natur liegende Bosheit anrichten kann – egal an welcher Stelle der gesellschaftlichen Organisation er sich befindet (wobei das Schadenspotential eines Menschen in herrschender Stellung natürlich deutlich höher ist, er also einer besonders strengen Kontrolle bedarf).

Das hat Konsequenzen für die Beurteilung der Phänomene: so werden Menschen nicht von ihren Herrschern wie willenlose Schafe in einen Krieg getrieben oder gehetzt, wie es das lFN impliziert (denn der Krieg erfolge ja gegen ihr eigenes Interesse, im Proftinteresse der Machthaber), sondern die Menschen wollen eine Zerstörung ihrer eigenen Gemeinschaft durch einen Invasor verhindern, indem sie Gegengewalt ausüben. Oder sie wollen ihren eigenen Herrschaftsbereich vergrößern, indem sie andere Gemeinschaften angreifen. Ähnlich wie eine Bienenkönigin hierbei nur eine Art orchestrierende Focusfigur darstellt, die Arbeit aber vom gesamten Bienenvolk gemeinsam geleistet wird, kann der Herrschende nicht ein ganzes Volk gegen dessen Willen in einen Krieg treiben, sondern nur den gemeinschaftlich gewollten Krieg orchestrieren. Sofern er einen Krieg aus sich heraus anordnet, geschieht dies im Rahmen der Herrschaftskompetenz, die ihm sein Volk erteilt hat und in der Regel in dem Versuch, das im gemeinschaftlichen Interesse Liegende zu tun. Daß es von dieser Regel Ausnahmen gibt, in denen tatsächlich reine Gier das Motiv war, invalidiert nicht die Regel. ⟶Abusus non tollit usum

Zurückweisung 3 (theologisch).- Die theologische Zurückweisung bestätigt zunächst die soziologische und empirische. Sowohl die Herrschaft als legitime Macht (So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist) als auch der realistische Blick auf den Menschen (Denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf) sind biblisch begründet, und ihre Richtigkeit erweist sich immer wieder. Die böse Macht, die sich das Leben der Menschen anzueignen sucht, existiert zwar auch in christlicher Sicht, sie ist aber nicht Eigenschaft eines bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses, wie es das lFN postuliert. Auch ist ihr Einfluss nicht auf eine bestimmte Gruppe von Menschen begrenzt. Die böse Macht ist eine transzendente Macht, die als ⟶Fürst dieser Welt bezeichnet wird und in ihr bis zum Jüngsten Tag herrscht. In den Herzen der Menschen tritt sie als Versucher auf, mit dem Ziel, die Gottesgaben der Vernunft und des Gewissens zu vernebeln, bis hin zur endgültigen, von der menschlichen Seele bewußt und entschieden vorgenommenen Abtrennung von Gott (⟶Sünde wider den Heiligen Geist).

Die weitgehende Etablierung des Unglaubens in den Gesellschaften Westeuropas bietet der bösen Macht ein weites Einfallstor. Denn mit der bloßen Neigung zu Gewalt, Neid, Macht usw. ist der Mensch nicht erschöpfend dargestellt: da er als ⟶Ebenbild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, ist in ihm die Anlage, das Wahre (mittels seiner Vernunft) und das Gute (mittels seines Gewissens) zu erkennen. Darüberhinaus besitzt er das eingeborene Streben zu seinem Schöpfer hin: Zu dir hin hast Du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir. Auch ein Mensch, der in seinem Bewußtsein die Religion bereits abgeschafft hat, hat dieses Streben zu Gott, die Neigung zur Religion weiterhin in sich. Da er sich den wahren Weg zur Anbetung Gottes aber selbst verbaut hat, bricht sich das religiöse Bedürfnis in anderen, falschen Formen Bahn. Dies ist die ⟶säkulare Religion, das Einfallstor für den ⟶Lügengeist. Die Bibel berichtet von dieser Form der verkehrten Religion mit den Urbildern des Goldenen Kalbs und des Turmbaus zu Babel. Die von der bösen Macht inspirierten Lehren sind süß und verlockend anzuhören, sie wirken besonders auf junge Menschen sehr anziehend. Sie wirken aber im Grunde destruktiv und nihilistisch, hinter den öffentlich vorgetragenen utopischen Zielen ist der tatsächliche Zielpunkt schnell erkennbar: die Zerstörung der bestehenden Ordnung. Die ihnen innewohnende Gottlosigkeit entkernt diese Lehren, so daß sie nur zerstörerisch wirken können. Das zeigt sich, wenn sie die Oberhand gewinnen und wirklich gesellschaftflich bestimmend werden (vgl. ⟶realer Sozialismus, aber auch beim konsequenten säkularen ⟶Liberalismus zeigt sich, daß die Fundamente der Gesellschaft Stück für Stück abgetragen werden).

Vorbehalt der Zurückweisungen.- Die Zurückweisungen widerlegen nur die für das lFN tragenden Auffassungen, daß die bisherige Herrschaft gewaltsam gegen das Interesse des Volkes eingesetzt sei und daß Gewalt und "Ausbeutung", also die unrechtmäßige Aneignung von Besitz oder Lebenskraft der Behrrschten, nicht etwa als Ausnahme oder unerwünschte Begleiterscheinung auftreten, sondern das Wesen der bisherigen Herrschaftssysteme ausmachten (der Widerspruch des Marxismus, daß Ausbeutung nur dann als ein anzuklagendes Übel angesehen werden kann, wenn man sich auf ein objektives, höheres Recht beruft, dessen Existenz von derselben Theorie vehement geleugnet wird, sei hier einmal beiseitegelassen). Daß es aber Profiteure geben kann, die von einem Herrschaftssystem zu ihrem Nutzen Gebrauch machen, ist damit nicht widerlegt, sondern muß für jede einzelne Behauptung (multinationale Konzerne mit Regierungsverflechtungen, Unternehmer überhaupt, Finanzoligarchie mittels ⟶Schuldgeldsystem, usw.) separat und sorgfältig geprüft werden. Für die klassische marxistische Theorie, wonach auf Basis der Arbeitswertlehre im Kapitalismus grundsätzlich alle Unternehmer ihre Angestellten ausbeuten: ⟶marxistischer Ausbeutungsbegriff.

Veröffentlicht: Samstag, den 30. Juli 2016