Rüdiger Plantiko

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Ein häufiges Muster bei Gesprächen über Religion: mit vorwurfsvollem, anklagendem Ton bekommt man himmelsschreiende Ungerechtigkeiten, Grausamkeiten und Verbrechen präsentiert, die in der Bibel berichtet, propagiert oder sogar Gott zugeschrieben werden. Hier ist eine kleine Sammlung, aber es gibt deren zahlreiche im Netz. Den Strohmann, jeder Gläubige müsste jeden Satz der Bibel für ewig gültig und von Gott unmittelbar diktiert halten, lasse ich hier einmal beiseite. Das Interessante an diesem moralischen Argument ist ja: genau diese höhere Instanz, vor der der Ankläger hier spricht, die höhere Instanz, die er im gemeinsamen Gespräch als Richter anruft, um sich selbst als Ankläger und mich als Verteidiger des Christentums (also natürlich "der gesamten Bibel") zu plazieren – um diese Instanz geht es dem Gläubigen! Wie kommen wir überhaupt dazu, ein moralisches Empfinden – ein Empfinden für das Gute in uns zu haben? Ein Empfinden, das wir auch gegenüber unserem Opponenten im Gespräch als gemeinsame Basis anrufen können, weil wir davon ausgehen können, daß es universell gültig ist? Das allein ist ja schon spannend! Und eine Ohrfeige für den gängigen, am ewigen Hin und Her der Welt vergreisten, verlebten Relativismus, der nur noch gelangweilt blinzelnd fragt: "Was ist schon gut? Was ist schon böse? Was ist wahr? Was ist falsch? Ist dein Gutes auch mein Gutes?"

Ich halte schon einmal fest: es gibt einen nicht subjektiven, sondern über-subjektiven, also objektiven Begriff von Gut und Böse, auf den man sich im Gespräch berufen kann – ein Gespür davon ist als "Gewissen" in unsere Seele gelegt, um uns in unseren Handlungen zu leiten. Daß das so ist, daß ihm das Himmelslicht der Erkenntnis von Gut und Böse in die Seele gelegt ist, ist für den gläubigen Menschen schon ein Lichtstrahl der Anwesenheit Gottes, die in seine Seele fällt. Ebenso wie seine Ausstattung mit einem Erkenntnisvermögen überhaupt, mit dem er nicht nur Moralisches, sondern überhaupt Wahres von Falschem unterscheiden kann.

Wenn das alles ist, entgegnet der Ankläger, brauche ich keine weiteren Details über Gott und die Bibel – darüber, daß es ein objektives Gut und Böse gibt, ebenso wie es ein objektives Wahr und Falsch ist, können wir uns schon einig werden. Das ist, wie gesagt, in Zeiten des Relativismus schon viel. Aber aus religiöser Sicht natürlich nicht ausreichend. Denn das Denken bleibt dann eingekapselt im Weltlichen, in der Immanenz. Der Ratschlag: "Wenn du sowieso nur die Teile aus der Bibel akzeptierst, die mit deiner Vernunft übereinstimmen, dann wirf doch die Bibel gleich weg und verlaß' Dich ganz auf Deine Vernunft!" ist daher unannehmbar. Denn die Bibel, was auch immer für Schlimmigkeiten sie ansonsten auch enthalten mag, ist unter anderem auch das Zeugnis Gott suchender und im Vertrauen auf ihn lebender Menschen (für den Christen gibt sie vor allem Zeugnis von dem zentralen Element der Heilsgeschichte - der Inkarnation, dem Einbruch des Göttlichen in die rein menschliche "innerweltliche" Ordnung, aber das zu vertiefen, geht weit über das Thema hier hinaus). Da dieses Suchen, dieses Vertrauen nichts Fertiges ist, sondern ein Unterwegssein beinhaltet, dessen Vollendung in dieser Welt nicht zu finden ist, ist die Bibel gerade durch das wertvoll, was aus der abgezirkelten Welt hinausweist.

Die Tatsache, daß die Unterscheidungsvermögen Gut/Böse und Wahr/Falsch in unsere Seelen gelegt sind, ragt wie ein Felsblock in diese Welt hinein, der von einer anderen, umfassenderen, urbildlicheren Welt zeugt. Zu der Einsicht in dieses andere Welt kann man niemanden "verhaften". Jeder kann, wenn er nur will, immer die Arme verschränken und sagen: die sinnenfällige Welt, das was um mich herum ist und sich durch meine Augenfenster meiner Seele kundtut, das ist alles, was es gibt – von allem anderen will ich nichts wissen. Nur ist diese Haltung dann kein Schicksal, sondern etwas Selbstgewähltes: ich will, daß diese Welt alles sei, laß mich mit diesem Übergreifenden, auf das sie verweist, in Ruhe. Der Gläubige empfindet dagegen sich und die Welt als nicht abgeschlossen. Zu Dir hin hast Du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, sagt es Augustinus. Der Mensch ist kein in sich abgezirkeltes Wesen - er hat zwar seinen Bereich, seine Lebenswelt, auf die er seine Begriffe anpasst, er schwimmt so gesehen in seiner eigenen Suppe - aber all dies ist nur ein Teil eines umfassenderen Ganzen, und er kann sich nicht münchhausenmäßig aus eigener Kraft zur Erkenntnis dieses Ganzen hinaufarbeiten. Der Mensch hat in sich diese Sehnsucht nach der Fülle – auch Hoffnung genannt – auch sie ist in seinem Wesen angelegt. Wenn sie aber nicht in den Glauben eingefaßt ist, daß es etwas Höheres gibt als wir selbst es sind, dann entstehen die unseligen Utopien der säkularen Religion. Der Hebräerbrief faßt das ganz schlicht zusammen: Glaube ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.

Veröffentlicht: Sonntag, den 7. August 2016